Rezension zur Ausstellung Ecce musca
Die Beziehung zwischen Mensch und Fliege ist grundsätzlich einseitig, bestimmt von der schamlosen Anbiederung der zweiten Spezies: Fliegen haben keine Scheu davor, sich Menschen anzunähern, sich auf dem Handrücken niederzulassen, unseren Kopf als Landeplatz zu erwählen, um aber dann sofort wieder abzuheben, sobald sich eine drohende Hand nähert. Wir Menschen neigen dazu, Fliegen möglichst lange zu ignorieren, bis uns ihre Präsenz zu viel wird und unsere Reaktion folgt: Ein hektisches Pitsch-patsch, meist aber daneben. Zu fremd sind uns diese Insekten, die oft blick- und geräuschlos unterwegs sind, aber rasch in großer Zahl auftreten können. Sie wirken fremd, auch bedrohlich, da sie nie auszusterben scheinen, zudem einen Hauch von Krankheit und Tod verbreiten. Fliegen suchen Absterbendes und Vergehendes, wie Essensreste und Süßes, sie lassen sich auf Aas nieder, auch auf Verstorbenen, bar jeden Respekts. So sind sie kaum sichtbare Existenzbegleiter, über deren Rolle aber Einmütigkeit besteht: Sie sind völlig überflüssig, so die landläufige Meinung. Daher lautet auch der verächtliche Zuruf an Gäste, die man vom Hals haben will: „Mach die Fliege!“
Elisabeth Frei, die in dieser Ausstellung das Sujet „Fliege“ aufgreift, hat Gespür für ungewöhnliche Zugänge und Herangehensweisen. Wer sie im Atelier und in ihren Arbeitsräumen in der Lajener Handwerkerzone besucht, begegnet einer Porträtserie besonderer Art: Man blickt auf eine Galerie von Menschenbildern, von großformatigen kolorierten Zeichnungen mit unverkennbaren Persönlichkeiten aus Lajen und Umgebung: Einfache Menschen, Ältere, Männer und Frauen, die aber eine gemeinsame Perspektive aufweisen: Sie sind von der Rückenansicht her dargestellt und wenden den Betrachtenden die Kehrseite zu. Dennoch vermeint man Charakter und Persönlichkeit deutlich zu erkennen, da diese eindrücklich lesbar erscheinen: In Körperhaltung und Kleidung, aus Blickrichtung und Pose. Darin zeigt sich ein besonderes Talent von Elisabeth: Aus ungewöhnlichen Perspektiven vertiefende Erkenntnisse zu gewinnen, etwa aus der Einsicht, wie sehr menschliche Charakterzüge längst nicht nur aus Gesichtern ablesbar, sondern auch in unsere Körperlichkeit eingeschrieben sind. Dies hat mich an der Künstlerin, die ich noch nicht lange kenne, neben ihrem künstlerischen Format auch spontan beeindruckt: Ihr Mut, Perspektiven zu drehen, ihr Vertrauen auf die eigene Sichtweise und ihre Fähigkeit, ein Thema mit künstlerisch virtuosen wie originellen Mitteln intensiv, dabei aber sozusagen spiegelverkehrt zu durchdringen.
Genau diese Öffnung der Perspektiven bietet die aktuelle Ausstellung bei Variatio in Bruneck: „Ecce Musca“. Ein ungeliebtes, nur zu gerne ignoriertes Sujet wie die Fliege dient Elisabeth Frei dazu, um nicht nur den Kosmos der Fliege selbst zu erschließen, sondern auch ihre Beziehung zum Menschen neu auszuloten. Mehr noch: ihre künstlerische Auseinandersetzung mit Fliegen stellt grundsätzliche Fragen an unser Menschsein, an die conditio humana, die in ihren künstlerischen Antworten nicht durchwegs gemütlich ausfallen.
Der Ausgangspunkt für den Musca-Zyklus war, so etwa vor einem Jahr, das Entdecken einer toten Fliege auf der heimischen Waschmaschine. Das Insekt wurde aber nicht in den Müll gekippt, sondern in Blattgold gefasst, verwahrt und blieb zum Erstaunen der Künstlerin äußerlich unverändert. Der Chitinpanzer bestand als Hülle weiter, wie ein Mikromonument fliegenhafter Dauerhaftigkeit.
Elisabeth Frei befasste sich dann näher mit der Welt der Fliegen, mit ihren biologischen Voraussetzungen, ihrem Umfeld wie mit der Aura, die sie in vielen Kulturen umgibt. Ihr ungemein feines Sensorium ermöglicht der Fliege das Orten von Geruchsspuren auch in kleinsten Duftkomponenten. Ihr Auge ist anscheinend ohne Blick, aber zu einem 360-Grad-Rundpanorama fähig, wie eine Luftüberwachung, die kleinstmöglich, aber hocheffizient operiert. Das blicklose Fliegen-Auge besteht aus rund 14.000 kleinen Facetten, die die umgebende Welt wie ein Laser durchdringen. Was Fliegen sehen, wird gerastert wahrgenommen, jede Änderung erfasst, um darauf zu reagieren. Man kann mit Fliegen nicht kommunizieren, sie sind kein Hund, der unsere Launen erahnt, keine Katze, die uns umschmeichelt. Für Fliegen sind wir nichts als Objekte mit merkwürdigen Bewegungsabläufen und spannender, wohl meist appetitlicher Geruchsoberfläche.
Der Tod ficht die Fliege nicht an: Ihr Nachwuchs zählt nach Tausenden, so spielen Zeit und Geschichte für sie keine Rolle, da sie auch als Eintagsfliege nach ihrem Absterben in anderen gleichmütig weiterlebt. Einsichtig daher auch, dass ältere Kulturen die Fliege als Ausdruck einer höheren Macht bewerten: In Ägypten als Gott, im Abendland als Sinnbild des Teufels, der als der Herr der Fliegen gilt.
Die Fliege ist also – aufs erste besehen – das gänzlich Andere des Menschen, frei von jener kognitiven Intelligenz und emotionalen Komponente, die wir dem Menschlichen gerne zuschreiben. Sie ist Lebewesen, aber Funktion ohne sozialen Sinn. Aber dennoch steckt in der Ablehnung und Negation, die wir Fliegen entgegenbringen, eine tiefere Beziehung, die Elisabeth Frei sichtbar macht und mit künstlerischen Mitteln effektvoll gestaltet.
Seit Beginn dieses Jahres hat sie sich am Thema inspiriert - mehr noch: sie hat sich daran abgearbeitet - und in ihren Zeichnungen menschliche Körper und Fliegen einander angenähert. Dies fiel auf der einen Seite nicht schwer, da Anatomie und Ausdruck des Leiblichen Elisabeth Frei als Porträtistin und Aktzeichnerin seit langem vertraut sind. Seit dem Besuch der Kunstschule in Gröden hat sie die Aktzeichnung begleitet, sodass ihr Körper-Entwürfe leicht von der Hand gehen. So schien ihr die Überlagerung beider einen Versuch wert, um die beiden, so unterschiedlichen Existenzen Mensch und Fliege füreinander anschlussfähig zu machen.
Den Aktzeichnungen in spannungsvollen wie gelassenen Posen sind die Darstellungen von Fliegen unterlegt, deren gerundeter Körperbau in Übergröße sich in der Unterlage beinahe verspielt an die menschliche Überlagerung einfügt. Durch die überlagernden Körper schimmert das farbige Fliegen-Auge hindurch, als untergründiges Glühen, das gleichsam im Stand-By-Modus Vitalität signalisiert. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, wie Mensch und Fliege in eins verschmelzen, so dass das biblische „Ecce Homo“ (etwa: „Siehe, ein Mensch!“) aus der Frei-Perspektive in ein fasziniertes „Ecce Musca“ überwechselt. Man weiss nicht, ob beide Kreaturen noch getrennt oder bereits verschmolzen sind - zu einem neuen Wesen, das ein wenig Erschrecken weckt und dennoch fasziniert.
Dies gilt noch mehr für die von Elisabeth kreierten Fliegen-Skulpturen, für deren Fertigung sie eine eigene Technik entwickelt hat. Zum Aufbau dient ein fester Korpus aus Gips und fest geknetetem Papier für den Kopf. Diesem Unterbau wird dann Transparentpapier überlegt und darauf mit Kohlezeichnung die Linienführung entwickelt, sodass die Fliege dank der Hand der Künstlerin Gestalt annimmt. Mit selbst angerührtem Tapetenkleister wird dann das Papier an die Form angepasst, bis unverkennbar der Fliegenkorpus entsteht. Die Flügel werden in einem eigenen Arbeitsgang gezeichnet, sodann gekleistert und mit dem Fliegen-Body verbunden. In unheimlich behender Anpassung fügt Elisabeth die Flügel an den Körper, faltet sie und färbt sie mit Kohle ein wenig ein. Nach dem Abtrocknen über Nacht ist dann die Fliege vollendet. Den Vorgang beherrscht Elisabeth inzwischen mit solcher Virtuosität, dass sie eine beinahe serielle Produktion geschaffen hat, 32 an der Zahl, die die Rückwand von „Variatio“ schmücken. Dies entspricht auch dem Auftreten von Fliegen, die selten nur als Solisten daherkommen, sondern meist im Geschwader auftreten.
Mit „Ecce Musca“ demonstriert Elisabeth Frei wieder ihren bewährten Mut für Ungewöhnliches. Motiv und Form sind nur auf den ersten Blick von banaler Gewöhnlichkeit. In Wahrheit aber wirft ihre Arbeit die Frage auf, ob der humanen Spezies wirklich so hoher Rang in der Schöpfung zukommt, wie ihr nach wie vor zugeschrieben wird.
In einer Welt, in der tagtäglich Menschen wie Fliegen sterben, relativiert sich der Wert des Menschlichen in schmerzlicher Schärfe. Der Blick auf die Fliege macht deutlich, wie wenig es bedarf, um uns Kreaturen auf ihren Status zu reduzieren, über den wir uns so erhaben wähnen. Dagegen lehrt die Fliege, wie Minimalismus überdauert und wie auch wir Gefahr laufen, zu Existenzen einzuschrumpfen, deren Gefühle verdampfen und bei denen nur mehr Instinkt und Funktion vorherrschen.
Aber nicht dies ist wohl die Kernaussage der Arbeit von Elisabeth Frei. Vielmehr richtet „Ecca Musca“ an uns das Angebot, uns zu begreifen als Teil eines Kosmos, in dem auch das Nichtige seinen Wert hat. In dem man Fliegen nicht lieben muss, aber sehr wohl lernen kann, dass in der Natur das Kleinste oft genug hohen Stellenwert einnimmt und Beachtung verdient.
Hans Heiss